Das neoliberale Proletariat.

" Die ZEIT " bearbeitet in einem jüngst erschienenen Artikel Ergebnisse politikwissenschaftlicher Forschung, die zu einem dramatischen Umdenken in der politischen Strategiearbeit führen sollten.
Ich zitiere die wichtigsten Passagen aus dem gewohnt profunden Artikel der "ZEIT" aus denen klar wird, wie dramatisch sich die Anhänger der AfD von allen anderen politischen Wählergruppen unterscheiden (die Ähnlichkeit mit österreichischen Verhältnissen und der FPÖ ist eklatant):

"Die Ergebnisse wecken Zweifel an der These, wonach sich die AfD durch mehr Umverteilung und ein simples Mehr an Sozialstaat bekämpfen lässt.
Die Anhänger der AfD (können) mit Sozialpolitik in ihrer klassischen Ausprägung nicht sehr viel anfangen.
Die Unterstützung für höhere Steuern und mehr Sozialstaat ist im Mittel so gering wie bei keiner anderen im Bundestag vertretenen Partei.
Ganze 72 Prozent der AfD-Anhänger sprechen sich für eine Absenkung des Bürgergelds aus.
Ein ähnliches Bild ergibt sich bei grundsätzlicheren Fragen der Wirtschaftspolitik. So stimmen 29 Prozent der AfD-Anhänger der Aussage ganz oder teilweise zu, der Staat solle sich aus der Wirtschaft heraushalten. 
Und: Nur 18 Prozent der AfD-Wähler sind für eine Lockerung der Schuldenbremse.
Diese Umfrageergebnisse legen nahe, dass die Parteien der Mitte die Wähler der AfD nur schwer mit den klassischen Instrumenten der Wohlfahrtspolitik zurückgewinnen können.
Doch diese Verunsicherung (über den eigenen wirtschaftlichen Status und die Entwicklung der Preise) übersetzt sich nicht unbedingt in den Wunsch nach mehr staatlicher Intervention. Unterschiede beim Einkommen oder beim Bildungsniveau werden also akzeptiert. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass die Anhänger eher der unteren Mittelschicht angehören und häufig nicht direkt von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind. Denkbar ist auch, dass die Anhänger der AfD soziale Gerechtigkeit anders definieren als die Anhänger der etablierten Parteien. Der gesellschaftliche Status wird demnach mehr oder weniger als verdient angesehen: Wer wenig hat, ist selbst schuld. Ein universalistischer Wohlfahrtsstaat – der auch Bevölkerungsgruppen zugutekommt, die diese Unterstützung vermeintlich nicht verdient haben – kann jedenfalls Studien zufolge zu einer Verfestigung der Unterstützung von rechtspopulistischen oder rechtsextremen Parteien beitragen."

Diese Erkenntnisse haben mich ganz ordentlich geflasht.
Einerseits, weil ich - Achtung! Selbstreferenz! - schon seit Jahren bezogen auf die FPÖ der festen Überzeugung bin, dass die von der SPÖ Abgewanderten nicht mehr zurückzuholen sind. Nur habe ich nicht geahnt, dass sich andererseits eine völlig neue Wähler*innenschaft entwickelt hat, der mit den üblichen Klischees nicht mehr beizukommen ist. Ich nenne diese beängstigend gewachsene soziodemografische Kategorie in politikwissenschaftlichem Ehrgeiz das "neoliberale Proletariat".

Nicht nur wird es - wie schon gut bekannt - vom Wunsch getrieben, dass es bei allen eigenen Schwierigkeiten doch bitte wenigstens ein paar anderen noch schlechter gehen möge. Es wird zusätzlich von einer tiefschürfenden Staatsfeindlichkeit motiviert, die bei allen Themen, wo es um eine grundsätzliche gesamtgesellschaftliche Solidarität gehen sollte, in eine fundamentale Opposition kippt.
Das alles - und dieser Aspekt ist mir nun ganz besonders irritierend ins Auge gesprungen - befeuert von einem zutiefst egomanischen Motivbündel, das seine ganze Schubkraft auf die Selbsthilfe des Einzelnen gründet. Wer schwach ist, ist selbst schuld, ein universalistischer Wohlfahrtsstaat ist der natürliche Gegner dieses neoliberalen Proletariats.
Diese Ideologie der Vereinzelung und der Ent-Solidarisierung generiert in ihrer toxischen Zerstörungskraft ein wahrhaft dystopisches Szenario, das von den bisherigen "Rezepten" des Gegensteuerns geradezu gefüttert, statt bekämpft wird.
So etwas erfüllt zwar theoretisch die Kriterien einer paradoxen Intervention, bewirkt aber keinesfalls jene heilsamen Effekte, die diesem therapeutischen Impuls zugeschrieben werden.

Bei einem solchen Entwicklungsstand der Gesellschaft erscheint der aus vielen guten Gründen dringend erforderliche antifaschistische Konsens vor allem deswegen so unverzichtbar, weil nur durch eine resolute Bündelung aller strategischen und kreativen Kräfte der originär demokratischen Parteien das Gegengift gegen das Faustrecht unterhalb der Mitte entwickelt werden kann. Das müsste auch eine Abkehr vom bislang von manchen frivol demonstrierten Kalkül bedeuten, dass eben das Faustrecht unterhalb der Mitte die Privilegien der Spitze des Eisbergs stabilisiert.
Wenn dieser Erosion nicht Einhalt geboten wird, schafft die Demokratie sich selbst ab, indem ihr Maschinenraum - der Kapitalismus -  mit seiner Selbstsucht zum Explodieren gebracht wird.
    

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Thomas Stangl (Dienstag, 16 September 2025 18:44)

    Das stimmt leider genauso. Man wünscht sich amerikanische (republikanische) Verhältnisse. Rücksichtslosigkeit gilt als Selbstschutz und Anstand als Schwäche. Der Sozialstaat in seiner gegenwärtigen Ausprägung wird mit der Gesinnung (und der wirtschaftlichen Entwicklung) nicht aufrechterhalten zu sein. Ich fürchte, wir gehen grimmigen Zeiten entgegen.