Boomer-Suder.

Wieder einmal brauche ich einen Überlauf für das hochschwappende Unbehagen, das mich oft nach der Rückkehr aus dem entwickelten Ausland bedrängt.


Seit 1 Woche aus Norwegen zurück (1 Monat mit meiner wunderbaren Frau in Bergen, Alesund, Lillehammer und Oslo) zwickt mich ein Gefühl, das ich mit 15 zum ersten Mal ganz schrecklich hatte. Ich durfte damals (1973) den ganzen Juli in England verbringen und bin meinen Eltern bis heute für dieses teure Geschenk dankbar. Als ich nach vier Wochen in Ramsgate (Südost-England) verkatert in Linz aus dem Zug kletterte, traf mich der provinzielle Mief und die Kleingeisterei binnen Sekunden wie ein Keulenschlag.
Meine Eltern und mein kleiner Bruder waren wie vor den Kopf gestoßen, als ein übellauniger, langhaariger Typ in Latzhosen und einem rot-weiß gestreiften T-Shirt mürrisch auf sie zukam und tagelang zu keinem freundlichen Wort imstande war.

Über 50 Jahre später bin ich natürlich viel reifer. Keine Latzhose, T-Shirts brav uni oder mit harmlosen Logos drauf, keine Haare mehr am Kopf, also auch keine, die lang wachsen könnten. Nur dieses braun-pelzige Gefühl in der Seele, dass hier so vieles nicht stimmt, ist geblieben.


Ja: Ich weiß, dass UK mittlerweile sehr weit nach hinten gerutscht ist. Und ich möchte dort auch nicht unbedingt leben müssen.
Ja: Ich weiß, dass auch 2 x 4 Wochen Urlaub in Schweden bzw. Norwegen nichts aussagen können, wie der reale Alltag wirklich funktioniert.
Aber - auch ja: In den 50 Jahren nach Ramsgate hat sich in mir schon ein Sensor entwickelt. Für Unterschiede (dafür ganz besonders), fürs Relevante und Essenzielle, für eine Stimmung und die Vibes in einem Land, das ich besuche.
Und da weiß ich einfach: Bis in viele kleine Details gibt es in Skandinavien Situationen, Verhältnisse, Umstände, die so viel besser sind, als hier in Österreich.


Am deutlichsten ist mir aufgefallen, dass die Menschen trotz sicher auch im Norden eklatanter Unterschiede in der Einschätzung der Wirklichkeit besser und engagierter am sogenannten "Gemeinwohl" - der res publica - arbeiten. 

Ja, Norwegen ist ein reiches Land und mit vollen Hosen ist leicht stinken.
Aber allein der Gedanke, Österreich hätte dieselben Ressourcen zur Verfügung, wie Norwegen, treibt mir den Schweiß der Verzweiflung auf die Stirn, so groß ist meine Sorge, die sprudelnden Gewinne aus dem Nordsee-Öl würden in Korruptions- und Schlamperei-trainierten ösischen Händen versumpern.
Nach zwei Sommern in Skandinavien wohnen zwei antagonistische Kräfte in mir: Einerseits die jeweils wirklich eklatanten Erholungsgewinne, die ich physisch und mental immer generiere. Andererseits das Gefühl der Enttäuschung, wenn ich vergleiche, mit wie viel praktischer Vernunft im Norden das Zusammenleben gestaltet wird. (Und welch toxischen Einfluss Neid, Missgunst, Eifersucht, Intrigantentum und schlicht Dummheit "bei uns" in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft haben.)

Ja, faktisch überall gewinnen rechte Bewegungen an Zulauf und Präsenz. Ein wirklich gesichert wirksames Gegenmittel gegen diese Pandemie der Niedertracht ist noch nicht gefunden oder gar im Einsatz.
Aber Skandinavien oder - am anderen Ende der Welt Neuseeland - scheinen eine deutlich bessere Methode gefunden zu haben.
Evidenzbasiertes Regieren, Ratio, Aufklärung, Säkularisierung und eine robuste Prinzipientreue zur Demokratie ohne Anbiederung an faschistische Gedankenverbrechen.


Bei anderen Gelegenheiten ist mir der nachfolgende Gedanke auch schon durch den Kopf gefahren und je länger ich meine Enkelkinder beim Aufwachsen beobachten und begleiten darf, umso schmerzhafter wird er: 

Meine Boomer-Generation hat das Wiederaufleben des Faschismus verpennt. Und das empfinde ich - trotz vieler Jahre sporadischer persönlicher Gegenwehr - auch als persönliche Schande. 

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Kommentare: 1
  • #1

    Karin Löfler (Mittwoch, 06 August 2025 10:11)

    Ja, lieber Hannes, wie so oft kann ich deine Gefühle voll und ganz nachempfinden! Ich durfte (aus Zeit- und Kostengründen) vor 11 Jahren leider nur knapp 10 Tage in Norwegen (Rundreise) zubringen, aber ich habe in der kurzen Zeit dieselben Vibes dort gespürt wie du. Und so sehr ich meine Heimat Österreich und vor allem Wien auch liebe, so schmerzhaft vermisse ich die weltoffene Haltung und Politik (überwiegend) nordischer Länder.
    Es tut einfach weh, das Wegschauen.
    Alles Liebe für dich und herzliche Grüße
    Karin